2022
Durchhaltewillen, Disziplin und fortwährende Distanzierung. Was wie sozialistische Propaganda klingt, ist mein Überlebens-Credo, drei Attribute die sich notgedrungen in den Vordergrund meiner Persönlichkeit gedrängt haben. Daneben hat nicht mehr viel Platz.
Seit einigen Wochen ist alles wieder da, erst für Momente, in kurzen, horrenden Terrorwalzen die mich völlig einnehmen und mir den Boden unter den Füßen wie eine Falltür aufheben; nun rollt sich alles wieder über Tag und Nacht aus, wie ein Teppich des Irrsinns, mit wenigen absurd erscheinenden Momenten plötzlicher Normalisierung. Auch diesmal habe ich das bedrückende Gefühl es nicht zu überstehen. Ich habe Seh- und Gleichgewichtsstörungen, von allem was ich zum Mund führe wird mir schlecht. Ich stolpere über Kanten und Stöcker, kann meinen Körper in freier Bewegung schlecht koordinieren. Die Welt ist ganz fremd und unheimlich. Es gibt Stunden fürchterlicher Aggression, in denen es sich anfühlt als würde ich zerplatzen. Mehrmals am Tag habe ich die 30-Minuten-Grippe mit Schüttelfrost, Gliederschmerzen, Fiebergefühl und einem Hundeelend. Dazwischen bin ich gesund. Immer wieder schießen bei wahllosen Gedanken, Lauten, oder Bewegungen Elektro-Zaps seitlich von meiner Schläfe ausgehend ins Hirn. Ich habe minutenlange Deja-Vus, die mich lähmen, in denen mein Geist taumelt und wie betäubt nach einem Anker in der Realität sucht und die mir ein grauenvolles, unbeschreibliches Gefühl hinterlassen, das sich in jede Zelle meines Seins drückt und noch Stunden später völlig ausfüllt. Mein Gehirn funktioniert nicht normal und ist zudem hochgradig insuffizient, ich kann phasenweise kaum frei sprechen, denn ich finde keine Wörter und verliere meinen Faden während die Gedanken rasen. So schlage ich mich über Tage mit Floskeln und vorgefertigten, auswendiggelernten Sätzen durch, sage Dinge die ich irgendwann mal gefühlt habe nur weil sie gerade passen - das bemerke ich zum Glück im sozialen Miteinander noch, was passt und was nicht. Ständig lüge ich den Leuten irgendwas vor, um meine abrupten Rückzüge zu erklären. Meine Gedanken und Gefühle quälen mich, sie sind aufdringlich, irrational und völlig einnehmend, obwohl ich sie längst nicht mehr ernstnehme, sondern wie ein Beobachter mit Schrecken ihre permanente Entgleisung verfolge ohne sie irgendwie stoppen zu können. Alles wechselt wieder rasch, teils im Minutentakt, auch das körperliche Befinden. Eben habe ich Hunger, dann ist mir übel, jetzt bin ich todmüde, gleich hypervigilant und hektisch. Mein Zeitgefühl ist seltsam verzerrt.
Ich habe neulich eine reale Entsprechung meines Zustandes erlebt, die so treffend war, dass sie mich noch tagelang verfolgte: Ich bin auf dem Schiff, dränge mich zwischen den Menschen, die von den Auto-Decks emporgekommen sind hindurch und möchte mich anstellen um einen Kaffee an der Bar zu kaufen. Kurz nachdem die große Fähre abgelegt hat bewegt sie sich plötzlich schlingernd, schwankt und kippt, es ist fürchterlich, ich verliere unter Deck sofort die Orientierung und taste mich unsicher in den Aussenbereich vor. Draußen stehe ich in Wind und Gischt, halte mich an dem Geländer einer Aluminium-Leiter fest und zwinge mich, den Blick an die Konturen der Insel zu tackern, von der wir eben abgelegt sind. Breitbeining stehend versuche ich mit dem Körper die Bewegungen des Schiffes zu begleiten ohne den Blick zu lösen. Auf dem offenen Meer angekommen gewinnen die Bewegungen eine andere Qualität, sie werden noch stärker, umfassen den ganzen Körper wie eine Welle, ziehen mich Richtung Boden in eine tiefe Neigung hinein. So drückt sich das Schiff in einem seltsamen Muster seitlich, vor, und dann in die Schräge, es lässt sich nicht ausgleichen, es ist wie ein Sog der keine Gegenbewegung ermöglicht. Sobald ich den Blick von meinen stabilen Objekten in der Ferne ablöse, steigt Schwindel in mir auf, spüre ich, die unmittelbare Irritation meines Gleichgewichtsorgans. Als die Umrisse der Insel langsam im Nebel verschwinden, verbleiben als letzte einigermaßen stabile Objekte die Wolkenfetzen, vor dem Hintergrund einer grauen Düsternis. Ich brenne mit meinem Blick Löcher in den Himmel. Zwei Regenfronten durchwandert das Schiff, in denen alles zu einer grauen Masse verschwimmt und ich panisch nach einem Orientierungspunkt ausserhalb des Schiffes suchen muss. Es bleiben noch kaum erahnbare, fahle Linien sichtbar, die blasse Linie des Horizonts, die in der dunklen Front ganz dicht gerückt ist. Die Augen beginnen zu flimmern. Ich zähle, etwa alle 10 Sekunden geschieht die dumpfe Wellenbewegung unter dem Rumpf. Sobald ich den Blick löse packt mich die Bewegung, es beginnt sich zu drehen, dann kommt Übelkeit. Es gibt keinen Ort an den ich flüchten kann, wir sind mitten auf See. Ich muss es ertragen und alles dafür tun, dass ich nicht auslösche. Ich klammere mich an Schemen und die kalte Leiter. Die Gedanken rasen, das Wissen, dass die Überfahrt mehr als drei Stunden dauern wird erschlägt mich, aber ich muss fokussieren und festhalten, es gibt keine andere Möglichkeit.
Seit circa einer Woche ist es nun noch schlimmer, auch wenn die Schwelle des erträglichen längst überschritten ist. Alle paar Minuten, einem unverständlichen Zyklus folgend, werde ich von kruden Gedanken überflutet, die mich kirre machen. ALLES triggert diese unbeschreiblichen geistigen Einwürfe und darauffolgenden Gefühle, oder sind die Gefühle zu erst da und der Kopf bastelt bloß rasch eine krude Story? Ich habe keine Ahnung mehr. Wechselweise habe ich starke, richtungslose Angst so dass ich mich kaum bewegen kann, dann berstende Aggression und ein sprachloses Entsetzen. Ich habe das unheimlich drängende Gefühl sofort handeln zu müssen, dabei bin ich wie paralysiert und auf gewisse Weise handlungsunfähig. Die Welt um mich ist wie abgedunkelt, sie liegt abgesperrt vor mir, wie ein düsteres, schemenhaftes Relief, das ich aus der Ferne betrachte. Das ist alles so verdammt irre. Und von einem Facettenreichtum, der einen staunen lassen würde, wenn man es als Unbeteiligter betrachten könnte. Es ist so tiefgreifend, dass es mich taumelnd macht und mein ganzes Sein erneut in Frage steht.
Ich sitze in einem Café und schaue aufs Meer. Meine Begleitung, ein Mädchen das ich kürzlich kennengelernt habe, lächelt mich an und sagt: „Jetzt fühlt es sich wie Urlaub an!“ Ich nicke, lächle und antworte: „Ja, es ist immer so entspannend aufs Meer zu schauen.“ Eigentlich möchte ich schreien, die Klappstühle auf die Straße werfen und mit meinem Kopf eine Glasscheibe durchschlagen. Das was mit mir passiert sieht keiner und versteht keiner.
Auf der Suche nach Heilung, nach einer Ruhe die mein Innerstes erreicht, habe ich alle Strukturen in meinem Leben auf Eis gelegt und bin abgehauen. Aber ich finde nichts, das mir Heilung bringt. Ich ziehe mich zurück, noch weiter und noch mehr, versuche aus einem Ort, einer Handlung einen Funken Frieden herauszuquetschen - Nichts. Nichts, als winzig kleine Momente, in denen etwas aufleuchtet, das ich mit Genesung assoziiere, aber die währen nur kurz und langsam glaube ich, fürchte ich, dass auch sie nur Schimären sind, perfide Facetten des Terrors und keine "ehrlichen", gesunden Gefühle.
Dinge, die angespannten Menschen guttun, bringen mir in dieser Lage noch mehr Unheil - Entspannungsübungen, Atemübungen, Yoga. Ich bin verzweifelt und mache sie trotzdem. Ich fühle mich wie ein Mensch, der das Endstadium einer bösartigen Krankheit erreicht hat. Wann immer möglich wandere ich, einen Fuß vor den anderen setzend, alleine durch die Lande und bin des Wanderns so leid, bin der Atemübungen so leid, des Durchhaltens so müde. Diese Art Un-Leben ist eine große Strafe und manchmal, in ganz wirren Momenten, da kommen mir Gedanken ob und wenn ja, womit ich das verdient haben könnte.
Ich habe keine Zukunft und keine Vergangenheit, alles ist verzerrt und eingeengt. Ich kann nicht geradeaus denken, ich kann nicht klar und konsistent fühlen und ich kann das vor allem nicht angemessen beschreiben.
Es war also schon mal besser.
Ja, und es wird auch wieder besser. Etwas in mir glaubt an das Leben. Aber wenn man den Dreck noch einnimmt ist es nach dem Crash (siehe 2018) noch viel schwieriger und langwieriger als ohnehin schon davon loszukommen. Das Nervensystem ist kein unbeschriebenes Blatt mehr (siehe unter Information Studien zu "Kindling-Effekten"). Ich fühle mich wie verflucht. Gleichzeitig zwinge ich mich zum Leben. Sichtbar ist es immer noch nicht, was da passiert. Ich lasse es nicht sichtbar werden. Wenn jemand sich über Banalitäten grämt kotze ich nach innen. Da wo ich gerade bin fliegen die Schwalben tief und hektisch, es wird regnen.
Ich danke allen, die mich nach der Lektüre meines Blogs kontaktiert haben, weil sie so wie ich begreifen mussten, dass es nichts hilfreicheres gibt, als das Wissen, dass man nicht alleine ist, dass es "das" gibt und dass man es irgendwie überleben kann. Mit Durchhaltewillen, Disziplin und Distanzierung. Was danach kommt, wird sich noch zeigen.