Wellen und Fenster
Mehr als zwei Jahre sind jetzt um. Und es fühlt sich gerade an, als wäre ich hier und heute kaum einen Zentimeter voran gekommen. Ich bin mehr als resigniert. Nach zwei Jahren verbringe ich immer noch 70 Prozent meiner Lebenszeit im Durchhaltemodus mit kaum nennenswerter Lebensqualität. Einen winzigen Schritt vor, zehn Schritte zurück. Es ist zwar nur noch selten so katastrophal wie in den ersten sechs Monaten, dafür kommen immer wieder neue Symptome und es fühlt sich alles einfach grauenvoll an.
Das ganze hat einen seltsamen Verlauf. Manchmal gibt es, völlig unverhofft, diese Momente der Normalisierung. Nach wochenlangen Wellen von Terror die über mir zusammenschlagen geht plötzlich das Licht an, macht sich Ruhe breit. Dann kann ich wieder Wohlbefinden spüren, die Gedanken verlieren ihre Brisanz, die Gefühle sortieren sich. Ich erhole mich. Etwas fängt an zu atmen. Die Welt taucht auf aus dem Nebel. Wie durch Magie normalisiert sich mein gesamtes Sein. Fast so als wäre ich wieder Ich, als hätte ich wieder Zugriff auf das Meine, als würden sich Erinnerungen sortieren und Erlebnisse integrieren. Es ist absurd. Es ist köstlich. Mein Leben ist noch da. Es wartete auf mich. Wo war ich?
Und dann geht es wieder los. Wenn mich die Welle überspült ist es, als wäre es nie anders gewesen. Das Normale ist augenblicklich nicht mehr erinnerbar, es gibt keinen Zugriff darauf. Sowohl Wellen als auch Fenster sind völlig unkontrollierbar. Alles ist völlig unkontrollierbar.
Seit zwei Monaten nun schon durchgehend Terror, keine Fenster mehr. Ich erwache am 14. Dezember 2020 mitten in der Nacht, im Alarm, als hätte man mich furchtbar erschreckt, mit einem bis in den Hals dröhnenden Herzen, Endzeitstimmung und diesem viszeralen Elend, das so typisch ist für diese ganze Geschichte. Und die Bilder, diese unzähligen Traumgeschichten, die sich jede schlafende Minute durch meinen Schädel quetschen bleiben im Kopf stecken, lassen sich durch Licht anmachen und aufrichten nicht abschütteln. Ich bin wach aber stecke bis zum Hals in der Unterwelt fest. Um mich herum eine fremdartige Realität. Horrorgefühle die mich besetzen. Immer wieder und wieder.
Zwei verdammte Jahre!
Wieder kann ich nicht auf den Balkon meiner Wohnung gehen im 5. Stock, ich kann nicht mal mehr aus dem Fenster schauen. Wieder schießen Elektroschocks durch meinen Kopf, und dieses Grippegefühl, dieses Schwitzen und Frieren, dieses fiebrige Flattern unter der Haut im ganzen Körper. Die banalsten Lebensmittel erzeugen Übelkeit, ich vertrage nix mehr, kein Essen, kein Trinken, keine Reize, keine Gedanken, keine Musik. Stattdessen Zitterattacken. Sehstörungen. Kopfschmerzen. Ein zerbombter Zyklus. Ohrgeräusche. Gleichgewichtsstörungen. Bauchschmerzen. Kotzübelkeit. Völlige Unfähigkeit zu Wohlgefühl. Schwindelattacken. Schlafstörungen. Tics. Zwänge. Derealisation. Depersonalisation bis zum Gefühl völliger Ich-Auflösung. Eine Wahnsinnsanspannung, so als würden in mir zehn buckelnde Pferde einen Hang herunter galoppieren. Und das sind mir noch die liebsten, die kann ich alle ertragen. Viel schlimmer ist der mental-emotionale Mist an den man sich niemals gewöhnen wird. Jeder Gedanke tut weh. All diese schrecklichen Gefühle, diese fremdartigen Empfindungen! Irrationale Ängste vor den unmöglichsten Dingen. Vor Menschen, vor dem Himmel, vor einem Glas Milch, einem Aufkleber an der Tür, Haaren im Abfluss, ein Fleck auf meinem Arm, Angst vor mir selbst, vor der Welt, vor Berührung, immer wieder minutenlang gelähmt vor Angst. Dann Wellen blindwütiger Aggression. Alpträume sowieso immer. Das Gefühl von Bodenlosigkeit. Völlig eingenommen sein von entsetzlichen Gefühlen. Dieses Absurde. Diese sich ständig wiederholenden Gedanken und intrusiven Erinnerungen, Träume, Bilder, Unsinnigkeit an Unsinnigkeit gereiht, durchfluten mich mit der Brisanz einer bevorstehenden Katastrophe. Wie grausam sich das alles anfühlt kann ich immer noch keinem erklären. Allein diese Gedankeneinschübe, teils minütlich, sind gerad echte Folter und bomben mit jedem Mal dieses abgrundtiefe Elendsgefühl empor, das mich immer noch sprachlos macht, nach zwei Jahren. Sprachlosigkeit.
Niemand sieht mir diesen Wahnsinn an. Es gibt da diese große Disziplin in mir, diese Kraft stoisch weiter zu gehen. Geführt von meinem Verstand, der mir immer brüchiger erscheint, Fehler macht. Gedanken und Gefühlen ist weiterhin nicht zu trauen. Ich lerne sie zu beobachten, sie sein zu lassen - so abartig und ungewöhnlich wie sie sind. Aber sie sind zu intensiv, so völlig einnehmend, dass auch diese Technik oft kaum Erleichterung bringt. Und wenn ich dann doch ein klein wenig Distanz herzustellen vermag, dann bleibt der Grusel, dass sie überhaupt da sind und wie sie sind. Das so etwas in mir passiert, so etwas unnatürliches, unbeschreibliches! Niemand sieht mir diesen Wahnsinn an, im Gegenteil. Ich bin so organisiert und fleißig wie nie zuvor in meinem Leben. Ich zwinge mich beharrlich zu etlichen Dingen. Ständig räume ich auf, schneide Gemüse, sortiere irgendwelches Zeug, ordne, lenke mich ab, lenke mich durch den Raum durch den Tag. Das ist mein Gerüst, das hält mich in der Bahn. Mache Atemübungen, mehrmals die Stunde, Klopftechniken, Mantrenaufsagen, Augenbewegen, Runterzählen und so weiter. Lebe für die kurzen Abendstunden, wenn der Schleier sich senkt und alles etwas dumpfer wird und erträglicher. Dann sitze ich benebelt in irgendeiner Ecke und spüre still diese große Verzweiflung in mir und freue mich, denn die ist endlich mal ein echtes, ein natürliches Gefühl.
Meine Wünsche für dieses Leben reduzieren sich auf den einen, das Pillenkarussell zu verlassen, die verdammten Substanzen endlich aus meinem Körper zu schwämmen und in Sicherheit zu gelangen. Planen kann ich gar nichts mehr. Eben ist die Lage so, gleich ist sie ganz anders. Manchmal freue ich mich plötzlich auf Dinge, fünf Minuten später erscheinen sie mir unerträglich. Ich habe in meinem Leben immer schon ein außerordentliches Interesse an Unabhängigkeit gehabt, jetzt hat das eine Dimension erreicht, die alles Vorherige übersteigt. Ich kann mich auf keinerlei Verbindlichkeiten mehr einlassen, wohlwissend, dass ich jeden Moment anders empfinden oder gar wieder handlungsunfähig werden könnte. Den Bedürfnissen anderer Menschen kann ich kaum mehr nachkommen, kann und darf nichts versprechen, nichts zusagen, nichts antizipieren und habe nicht mal mehr ein schlechtes Gewissen dabei. Jede Art drohender Verantwortlichkeit bereitet mir unfassbaren Stress. Ich führe etwas, das aussieht wie ein normales Leben. Dabei bin ich meistens fernab von allem Guten, allem friedlichen, bin eine Marionette meines starken Geistes, ein Überlebensautomat. Es kotzt mich an, dass man mit Worten nicht ausdrücken kann, wie unglaublich schlimm das alles ist. Wohlbefinden ist ein fremdes Gefühl, dass sich nur ganz selten mal meldet. Spüre keine Bindung, keine Wärme und keine Liebe. Dafür die missratenen Verwandten dieser Empfindungen als eine wiederkehrende emotionale Quälerei.
Und während ich all dies schreibe hocke ich, und das untergräbt meine Moral immens, immer noch auf einem Batzen Medikamente, auf die ich mich in meiner Verzweiflung damals einließ. Medikamente, die das alles entzündet haben, die nicht helfen, die ich aber nicht loswerden kann. Mein Nervensystem ist durch den ganzen Entzugswahnsinn so hypersensibel, dass bereits der Versuch 1mg von 178mg Quetiapin wegzulassen mich in Stücke reisst. Das glaubt einem kein Mensch mehr. Diese Zwangslage, diese unendliche! Ganze sechs Monate habe ich gebraucht um von 200mg Quetiapin auf 178mg zu gelangen. In 0,1mg Schritten krieche ich voran, obgleich mir das Grauen Tag und Nacht tief in den Knochen sitzt. Ich mache einfach weiter. Ich kann mich nicht bewegen, keiner kann mir helfen, nichts heilt, kaum einer glaubt. Auch die treuen Freunde fragen sich nach zwei Jahren berechtigterweise, warum denn „das“ nicht mal besser wird, was auch immer „das“ ist.
Ich kann nicht vor und nicht zurück. Fühle mich in Schrecken, in Irrsinn konserviert, seit mehr als zwei Jahren! Und das zieht mir den Stecker. Es zieht mir den Stecker. Es killt mein Restfünkchen Hoffnung. Ich kann nicht mehr diesen Dreck schlucken und dabei jeden Tag erneut verrecken. Zwei Jahre. Zwei Jahre Hölle die sich jeder Sprache entzieht mit einer Handvoll Lichtblicke. Ich bin fassungslos. Über das, was da mit mir passiert und darüber, dass sich trotz steigender wissenschaftlicher Evidenz, hier kaum einer um Aufklärung bemüht. Im Gegenteil. Man wird abgewürgt und belächelt.
Wer hat mir das angetan? Es gibt keinen Ort an den ich flüchten kann. Ich kann und will nicht mehr durchhalten, diese Gefühle und Gedanken, diese Zustände jeden Tag und jede Nacht aushalten müssen und nach Aussen hin so tun, als führe ich ein normales Leben.
Täglich schreibe ich mit denen, denen es auch so geht, die auch keine Worte haben. Doch wir können uns jetzt nicht mehr helfen. Jeder ist allein, alles bestehende Wissen ist aufgesaugt und ausgetauscht. Es gibt (noch) keine Lösung. Ich schreibe verzweifelt mit einem Schweizer Wissenschaftler. Er hat auch keine Ideen. Er berichtet mir davon, wie er täglich solche Zuschriften erhalte und wie schwierig es sei, die psychiatrische Welt für die Kehrseite der Medikamente zu sensibilisieren. Die heiligen Pillen dürfen nicht entweiht werden. Mit aller Macht hält man daran fest. Ich verfluche sie alle.
Warum hat mir keiner vorher gesagt, worauf ich mich da einlasse?
Ich hatte eine marginale Ursprungsproblematik, die sicher mit etwas Ruhe, Psychotherapie und Aufklärung ganz ausgeheilt wäre. Das bot man mir aber nicht an und ich wollte funktionieren, wollte mein System so wie es war auf Gedeih und Verderb erhalten. Der Preis war eine massive Veränderung meiner Emotionalität über viele, viele Jahre. Die, ganz sicher, jegliche Aufarbeitung meiner realen Probleme stark behinderte. Von vielen weiteren seltsamen Veränderungen ganz abgesehen. Doch das „Beste“ kam dann zum Schluss. Meine Emotionen und Denkabläufe sind nun in einer Weise gestört, die sich jeglichen diagnostischen Kriterien entzieht und der man nichts mehr entgegensetzen kann. Es gibt keine Hilfe. Es ist genau so, wie eine verständige Psychiaterin in unserem ersten Gespräch zu mir sagte: „Da ist irgendwas kaputtgegangen und wie man damit umgeht, wissen wir einfach noch nicht.“ Ich halte mich noch an meiner Hoffnung fest,
dass der Körper den Weg kennt und nur Zeit braucht und ich unendlich viel Geduld.