Aus dem Leben gefallen
Vor über einem Jahr hat mein Nervensystem durch den Versuch ein SSRI nach Langzeiteinnahme abzusetzen erheblichen Schaden erlitten. Dieser Schaden dauert an. Er produziert bizarre Symptomreigen psychischer und physischer Art. Das Überleben mit diesem Schaden gleicht einem Drahtseilakt. Weder das Wiedereindosieren des Medikaments noch die Hinzunahme weiterer Psychopharmaka haben diesen Schaden zu lindern vermocht. Seit über einem Jahr kämpfe ich meist um jeden Tag, oft um jede Stunde und manchmal um jede Minute verbissen darum das auszuhalten und nicht aufzugeben. Die Symptome brachen fast ohne Vorwarnung über mich herein. Ich kippte quasi über Nacht in einen absurden, unzähmbaren Ausnahmezustand. Urplötzlich war ich ein schwerkranker Mensch. Hätte ich die Vorboten nicht achtlos weggewischt, hätte ich rechtzeitig wieder eindosiert oder auch viel langsamer ausgeschlichen, es wäre vielleicht nicht so weit gekommen. Aber um mich so zu verhalten hätte ich fundierte Informationen gebraucht und die hatte ich nicht. Alles was ich wusste war die Aussage des Arztes: "Die können se einfach weglassen."
Ich glaube, ein gescheiterter SSRI Entzug zählt zu den schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch durchleben kann. In ihm wird alles ungewiss, weder Deine Gedanken und Gefühle, noch Dein Körper sind Dir mehr Freund und verlässlich. Es handelt sich um eine Krise, die auf allen Ebenen Deiner Existenz wirkt und wabert. Eine wahrhaft existenzielle Angelegenheit. In den ersten Wochen und Monaten hast Du kaum eine Minute Pause. Es fühlt sich auf vielfältige Art grausam an in Dir, egal was Du tust oder lässt. Du bist wie ein Schiffbrüchiger der auf dem Ozean treibt, sich steif an ein schwimmendes Brett klammert und um jeden Atemzug ringt. Welle um Welle um Welle um Welle.
Wie alles begann
Im 20. Lebensjahr entwickelte ich nach Abklingen einer Infektion mit dem Eppstein Barr Virus und damit einhergehender Therapie mit mehreren Antibiotika eine ausgeprägte Hypersensibilität. Meine Stimmung entglitt zusehends, ich war körperlich völlig kraftlos, konnte mich gleichzeitig aber kaum entspannen und fühlte mich von allem gestresst. Aus Sorge, meinen Job nicht mehr weitermachen zu können, ging ich zu einem niedergelassenen Neurologen. Dort bekam ich das erste Antidepressivum, ein Trizyklikum. Da dies nicht ausreichend wirkte, wechselte man nach circa zwei Wochen auf Fluoxetin, ein populärer SSRI. Nach ca. zwei Monaten waren Schlappheit und Unruhe verschwunden. Meine Gefühle wurden dumpf und eingleisig, nichts reizte mich mehr, geschweige denn Sexualität und das störte mich nichtmal. Ich lebte mein Leben so ähnlich weiter wie zuvor. Als ein knappes Jahr verstrichen war und mir das mit dieser Gefühllosigkeit doch etwas unheimlich wurde, beschloss ich die Medikamenten Ära hinter mir zu lassen. Ich war bar jeder Information. Ganz beiläufig ließ ich die Pillen weg und wähnte mich frei. Wenige Wochen später geschahen plötzlich seltsame Dinge in mir.
Stell Dir vor, es begegnen Dir in deinem Inneren plötzlich Gefühle und Gedanken die Dir fremd sind, in einer Intensität, dass es Dich in Mark und Bein erschüttert. Und Du denkst Dir: Was für ein schlafendes Monster habe ich da geweckt? Herrgott, ich bin ja doch so richtig krank! Und Du erschrickst sehr, verlierst einen Großteil Vertrauen in Dich und machst das einzig sinnvoll erscheinende, Du nimmst wieder Deine Pillen. Nach einer Weile verschwinden die gruseligen Phänomene gänzlich und Du spürst nur noch die Reste des Schreckens darüber und ein seltsames Misstrauen in Dich, denn was kam da bloß aus Dir empor gekrochen, welch Grusel beherbergt Deine Psyche?
Aus meiner ursprünglich recht banalen Problematik schien im Hintergrund etwas monströses geworden zu sein! Ich musste wohl doch sehr krank sein, so krank, dass ich die Medikamente zu brauchen schien. Und dass mein Leben sich nach Wiedereinnahme binnen weniger Wochen wieder normalisierte, als wäre nichts gewesen, schien nur ein weiteres Indiz dafür. Ich zweifelte an mir und versuchte, die seltsamen Erfahrungen zu verdrängen, irgendwo in mir erhalten blieben aber eine düstere Verunsicherung und das stete Gefühl eines unsichtbaren Defizits.
Der vierte Versuch
2016 beschloss ich, es aus einem Zustand der Stabilität heraus noch einmal in aller Langsamkeit anzugehen mit dem Absetzen, es müsste der 4. Versuch gewesen sein. Diesmal hatte ich mehr Informationen und alles begann harmlos und scheinbar wohlüberlegt. Ich hatte meinen Verstand zunächst mit Horrorgeschichten aus einschlägigen, psychopharmakokritischen Internetforen gefüttert und dort erstmalig erfahren, dass man die Präparate "ausschleichen" musste. Meine Hausärztin aber und diverse Psychiater/-innen die ich befragte sowie anerkannte Internetquellen "berieten" mich, in dem sie mir weiterhin einstimmig versicherten, ich könne das Medikament einfach weglassen. Ich orientierte mich nicht an letzteren, obgleich deren Aussagen in mir Zweifel an den Aussagen der Betroffenen in den Foren säten. Es scheint ein kollektives Erbe zu sein, dem Arzt immer ein Stück weit mehr zu vertrauen, als den Erfahrungswerten eines Betroffenen. Ich wollte besonnen und geduldig vorgehen und hatte doch Schwierigkeiten meinen Hang zu Hau-Ruck-Aktionen unter Kontrolle zu halten.
Zunächst reduzierte ich von 40mg auf 30mg. Diese Dosierung hielt ich für ein Jahr und ich würde rückblickend sagen, dass ich dieses Jahr ohne Auffälligkeiten überstand. Mit dem Wechsel von 30mg auf 20mg begannen die ersten spürbaren Probleme, allesamt aushaltbar. Ich hatte anflugsartige Ängste, seltsame Sehstörungen, starke Stimmungsumbrüche, fühlte mich oft unwohl in meiner Haut, mein Zyklus begann arg zu schwanken und immer wieder wurde ich von Akneschwaden heimgesucht, die ich so nicht von mir kannte. Aber es war zu ertragen. Dann wurde ich allerdings übermütig, ich wollte raus aus der Pillenspur, also reduzierte ich noch vor Ablauf des 2. Jahres auf 10mg. Da es keine 15mg Dosisgröße gab, sparte ich mir den Zwischenschritt. In den Internetforen wurde eine Reduktion um maximal 10 Prozent der jeweiligen Ausgangsdosis alle 4-6 Wochen dringlichst empfohlen. Aber ich war naiv, ich dachte, ich hätte die Zügel in der Hand und ich dachte auch in gewisser Arroganz: Die Leute in den Foren sind sensibel, sie übertreiben. Sie fokussieren sich zu sehr auf ihre Befindlichkeiten.
Meine eigenen Erfahrungen mit dem Absetzen waren mir nur mehr vage zugänglich, sobald sie abgeklungen waren, waren sie kaum mehr erinnerbar. Ausserdem gab es die düstere Sorge in mir, dass das, was ich erlebt hatte ja vielleicht doch ich selbst war, so wie ich wirklich war.
Mit 10mg wurde ich emotional immer wackeliger auf den Beinen. Meine Wahrnehmung begann sich zu verändern. Nach einer Fernreise im Februar 2018 wachte ich mit dem seltsamen Gefühl in meinem heimatlichen Bett auf, dass die Reise nicht stattgefunden hatte. Meine lebhaften Erinnerungen an sie schienen wie abgeschnitten von der Realität, es war als derealisierte ich meine Erinnerungen. Ich kannte das Gefühl, die Umwelt sei eine filmreife Kulisse oder eine Art Traum, der an mir vorbeizog bereits aus Angstzuständen, die ich in vorherigen Absetzversuchen erlebt hatte. Aber dass sich meine Vergangenheit mir so fremd darstellte, dass hatte ich noch nicht erlebt. Ich tat die Erfahrung ab, drängte die Besorgnis darüber aus meinem Bewusstsein und machte einfach weiter mit dem, was ich mein Leben nannte. Ich ging zur Arbeit, feilte an meiner Dissertation, traf mich mit Freunden und feierte an den Wochenenden in den Discos meiner Stadt. Ich trieb Sport, erdete mich beim Yoga und plante eine Yogalehrerausbildung im Herbst des Jahres. Manchmal fuhr ich raus aufs Land um mich von Blättern und Baumstämmen zu umgeben, um den Erdboden zu riechen. Ich träumte von einem Leben auf Reisen, Reisen um die Welt. Träumte von Freiheit und persönlicher Entwicklung. Das es bergab ging, dass da irgendetwas in mir begann sich langsam aber sicher aus den Angeln zu heben, dessen war ich mir nicht bewusst. Viel zu wenig achtete ich auf die feinen Regungen meines Systems. Hätte ich mehr den leisen Geräuschen in mir gelauscht, vielleicht hätte ich den Prozess aufhalten können, vielleicht hätte ich die Katastrophe abwenden oder zumindest abfedern können. Stattdessen hielt ich meinen Kurs: Es geht mir auf 10mg nicht gut, da kann ich das Ganze auch gleich "in einem Aufwasch" hinter mich bringen. Ich dachte tatsächlich, ich beisse für ein paar Wochen in den sauren Apfel und dann bin ich die Pillen los. Also begann ich bereits im Mai des 3. Jahres die 10mg Tabletten nur noch jeden 2. Tag zu nehmen um sie im Juli schließlich völlig wegzulassen. Rigoros zog ich es durch. Heute wünschte ich, ich wäre sanfter mit mir umgegangen. Aber ich war in wütender Entschlossenheit die chemische Fessel diesmal loszuwerden und wischte kleine und größere Zeichen zunehmender Labilität einfach beiseite.
Absturz
Der Zusammenbruch kam über Nacht, gut zwei Monate nach der letzten Einnahme.
Ich erwachte eines Morgens aus grauenvollen Träumen in einer Angst, die ich nicht kannte. Ich konnte nicht mehr essen, nicht mehr duschen, nicht mehr aus dem Haus gehen und nicht aufhören zu denken. Ich saß, gelähmt von martialisch kreisenden Gedanken und sich stetig durch den Körper pumpender Panik, in meiner Mulde auf dem Sofa, starrte gegen die Wand und traute mich nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Meine Wahrnehmung war verzerrt, mein Zeitgefühl verändert. Alle natürlichen Begrenzungen meines Denkens und Fühlens hatten sich aufgelöst. Intensive innere Bilder schoßen mir mit roher Gewalt durch den Kopf und entzündeten absurde Emotionen, die ich nicht zu händeln wusste. Elektroschockartige Sensationen zischten bei jeder Kopfbewegung von den Schläfen ausgehend durch den ganzen Körper. Schweissexplosionen und Frostattacken wechselten sich ab als hätte ich eine heftige Grippe. Noch nie war ich so krank gewesen. Ein normales Leben war nicht mehr möglich. Alles um mich kam zum Stillstand und in mir raste es. Ich hatte Angst vor allem, Angst vor Menschen, die ich seit Jahrzehnten kannte und Angst davor, dass ich so empfand. Mein Körper zitterte und bebte vor Anspannung. Meine Augen sahen nicht in den Raum um mich sondern durch ein beschlagenes Fenster in die Vergangenheit. Szenarien aus Träumen drängten sich mir tagsüber auf, die ich in Nächten geträumt hatte, die viele Jahre zurücklagen. Wechselnde Emotionen quollen im Minutentakt in mir empor deren Herkunft ich nicht zuordnen konnte und die alles an Intensität überschritten, was ich bisher erlebt hatte, mich völlig überfluteten, schüttelten und schlugen. Wenn es mir gelang kurz einzuschlafen, schreckte ich kurze Zeit später wieder auf und musste mich am Bett festhalten, so ein Schrecken durchfuhr mich. Ich hatte das Gefühl den Verstand zu verlieren. Ich hatte das Gefühl mich zu verlieren. Es schien, als sei mein Hirnstoffwechsel gewaltig aus dem Ruder gelaufen, als wäre ich auf einen schlechten Trip geraten. In einer Art Überlebensmodus kroch ich durch die Wohnung, durch den Tag und schaffte es gerade so alleine auf die Toilette. Die Welt um mich hatte sich so stark verzerrt, dass ich sie kaum mehr erkannte. Alles war unendlich finster und alptraumhaft.
Mich selbst erkannte ich noch weniger, ich war wie zerbrochen. Im Badezimmerspiegel begegnete mir ein fremder, hohlwangiger Mensch mit blankem Entsetzen in den riesigen schwarzen Pupillen. Zwischen meinen Oberschenkeln hatte sich in Kürze eine Lücke gebildet. Ich sah an meinem Körper herunter und erschrack, so fremd war er mir und so bedrohlich der Zustand in dem ich festhing. Ein Kilo nach dem anderen schüttelte dieser bebende Organismus von sich. An Essen war einfach nicht zu denken. Das Grauen fuhr wie eine Panzerbrigade laut und unerbittlich durch mein Leben und darauf herum. Vor und zurück. Mein Angstschweiss stand in den Räumen und meine Grundfeste wurden von einem Terror durchsetzt, der den Gedanken in mir initiierte, dass ich das nicht überleben würde, dass ich fiel und dieses Fallen kein Ankommen besaß, die ersten Monate 24/7, fast ohne Pause. Ich verzweifelte an der Unerträglichkeit dieses Schreckenszustandes den ich in keinster Weise verstand, aber da wurde es immer noch einmal schlechter und schlechter und schlechter. Es war bizarr. Ich fürchtete zu sterben und gleichzeitig wünschte ich es mir.
24/7 Angst
Die Ängste die dabei hervortraten waren anders als alle Ängste die ich je erlebt hatte, sie waren und sind existenziell, überspitzt und völlig ungehobelt. Sie stehen in keinem Zusammenhang mehr mit irgendetwas Realem. Banalitäten verwandelten sich in horrende emotionale Gespenster, Gedanken glitten ins absurde, wurden kreiselnd und unkontrollierbar. Es überschwemmten mich Schwaden düsterster Bilder, Szenen, Tagträume, grau in grau und durchwoben von Hoffnungslosigkeit. Mein Gehirn spielte wirklich verrückt. Ich wusste nicht wo und an was ich mich festhalten sollte, also krallte ich mich an jeder einzelnen Sekunde fest, wiederholte mantrenartig Sätze in meinem wirren Kopf wie: "Du hältst das durch!“, zählte die Gegenstände im Raum und konzentrierte mich auf meinen Atem. Ich war gelähmt vor Angst. Etwas ganz fürchterliches und unbeschreibliches geschah mit mir, soviel war sicher. Durch eine trübe Milchglasscheibe konnte ich noch wahrnehmen, wie die anderen Menschen ihr normales Leben einfach weiter lebten, ich aber war unendlich weit davon entfernt und in eine grausige Halbwelt gebannt.
Mit Beginn des Wahnsinns öffnete sich auch der Tränenkanal. Viele Jahre lang hatte ich dank des SSRI´s kaum ein einziges Mal wirklich geweint. Nun aber gab es kein Halten mehr, der heiße Sud floss wie Wasser aus meinem Kopf heraus und floss und floss, bis es auf den Boden tropfte und die Haut unter meinen Augen trocken und schuppig wurde. Aus dem Heulen wurde irgendwann ein Jaulen, ich jaulte wie ein geprügelter Hund, ich betete, ich warf mich auf den Boden und hielt mir den Kopf. Hunderte Male durchnässte ich den Stoff der sich über die Brust meines Partners spannte. Und immer wieder und wieder hielt er es aus, sagte nichts, war einfach für mich da und verbarg seine Sorge und sein Erstaunen über das, was da mit mir geschah in sich.
Ich wusste nicht wohin mit mir. Um essen und duschen zu können, um eine winzige Pause vom Grauen zu bekommen nahm ich ein Benzo. Es schenkte mir 3-4 Stunden benebeltes Leben. Dann ging es wieder los. So konnte es nicht weitergehen. Dieser Zustand war schier unaushaltbar und ich konnte nicht eine weitere Sekunde so existieren, also drängte ich schon nach wenigen Tagen darauf in die Psychiatrie zu gehen. In der Institutsambulanz einer psychiatrischen Klinik suchte ich Hilfe, aber da ich nicht wirklich wusste, was mit mir los war stammelte ich mich heulend von Symptom zu Symptom um irgendwie zu beschreiben, was da in Kopf und Körper geschah. Der freundliche Arzt versorgte mich mit neuen Medikamenten, riet mir zur Hinzunahme eines weiteren SSRI und wollte von "Absetzerscheinungen" nichts wissen. Das ich vor gut zwei Wochen noch ein funktionierendes Leben hatte war ohne Belang, hier war ich ein Wrack, ein Schatten meiner selbst, ein 24-Stunden Angstzustand. Man empfahl mir eine stationäre Aufnahme und ich klammerte mich daran fest, in der Hoffnung, dort eine Lösung für diese unerklärliche Misere zu finden.
the drugs don´t work
Die Wirkung des SSRI war unberechenbar. Hatte ich mich früher durch entschlossenes Wiedereindosieren nach jedem Absetzversuch rasch regeneriert, gelang dies plötzlich nicht mehr. Diesmal war alles anders, der Bogen überspannt, das System gecrasht. Es war, als sei mein Nervensystem arg demoliert und in seinen Funktionen aus den Angeln gehoben, es lies sich nicht mehr besänftigen, vielmehr wehrte es sich sogar gegen die Wiedereinnahme. Neben allem anderen tauchten seltsame körperliche Symptome auf, Schwindel bei raschen Augen- und Kopfbewegungen, permanente Übelkeit, ich hatte kaum Gleichgewicht, war wakelig auf den Beinen und immer wenn ich mich rührte fühlte es sich an, als würde mein Hirn an die Aussenränder des Schädels "schwappen". Der ganze emotionale und kognitive Wahnsinn aber blieb gänzlich unberührt und trieb seine Explosionen unablässig voran. Ich zählte jeden einzelnen Tag seit Wiedereinnahme, es tat sich nichts. Das schürte die Verzweiflung. Wenn nichts mehr half, wo war dann der Ausweg, was sollte ich tun? Suizidgedanken drängten sich auf. Ich war am Ende angelangt. Ich war gelähmt, bestand aus Angst, konnte kaum schlafen und wenn der Terror nachts ein wenig gedämpfter war, brach er pünktlich zwischen 4:00Uhr und 5:00Uhr mit roher Gewalt und dröhnendem Herzschlag wieder empor. Wie sollte ich das weiter aushalten?
Noch nie war ich so krank. Aber war das wirklich Krankheit? Ich fand mich nicht wieder in den diagnostischen Manualen mit denen ich seit einigen Jahren arbeitete, denn nur wenige Wochen zuvor hatte ich als Mitarbeiterin eines psychiatrischen Versorgungszentrums noch auf der anderen Seite des Systems agiert. Ich fand kein Syndrom, das mein Potpourri an Symptomen abbildete. Vieles von dem was ich erlebte fühlte sich zudem so "fremdartig" an, so völlig "unnormal". Hier geschah etwas mit mir, das ich beobachten konnte, etwas das in keinem Zusammenhang zu meinem Leben stand, so wie ich es bis vor kurzem noch zu führen fähig gewesen war. Ich wurde niedergewalzt von einer unbändigen Kraft, die sich an meinen dunkelsten Stellen bediente, die aus meinen Tiefen die verborgensten Schmerzen hervor schürfte um sie aufzublähen und mich mit ihnen zu überwältigen. Wieder und wieder und wieder. Es war die Hölle. Dies musste die Hölle sein. Ich konnte nirgendwo hin ausweichen und es gab niemanden der verstand und hätte erklären können. Noch nicht. Verzweifelt versuchte ich die kreiselnden, irrwitzigen Gedanken zu Ende zu denken, aber sie hatten kein natürliches Ende. Sie waren nicht das Produkt einer psychologischen Lebenskrise, sondern folgten einem anderen, unantastbaren Mechanismus der, wie ich später verstand, nur sehr sehr wenig mit mir und meinem Leben zu tun hatte.
*
Hilflos und klapperdürr ging ich damals in die Klinik. Dort war ich kleinlaut und ergeben, ich griff nach jedem Strohhalm der Besserung versprach, war bereit alles anzunehmen, was man mir suggerierte. Rasch ließ man mich wissen, dass ich sehr krank sei, die Handvoll Diagnosen die sie mir gaben ließen die Tatsache, dass ich bis vor kurzem noch ein funktionierendes Leben geführt hatte wie eine Lüge erscheinen.
Es stand schlimm um mich. Die Pillen halfen nicht, auch nicht die neuen. Jeden Morgen schlich ich vor allen anderen wie ein Gespenst über den Gang zum Stationszimmer um mein Bedarfsmedikament abzuholen, stand dort schlotternd im Türrahmen und die heißen Tränen perlten mir um 6:00Uhr früh unablässig über die Wangen. Nach wenigen Tagen musste ich aufhören, über die Unaushaltbarkeit meines Zustandes zu klagen, denn ich wollte nicht, dass man mich auf die Akutstation verlegte. Die Medikamente, an die ich meine ganze Hoffnung gehängt hatte, halfen nicht. Der Versuch ein einzelnes Medikament loszuwerden hatte eine wahre Medikamentenkaskade in Gang gesetzt die NICHTS, rein gar nichts beschwichtigte sondern nur noch weitere absurde Symptome und unaushaltbare Zustände generierte. Das einzige, was für kurze Zeit zu helfen vermochte, waren meine Benzos, aber die sparte ich mir in meiner Angst vor Abhängigkeit wirklich vom Munde ab.
Ich gab meine letzten Kraftreserven in die Erhaltung einer Existenz, einer Persönlichkeit, die man als noch zurechnungsfähig erachtete, obgleich ich mich längst nicht mehr so fühlte. Ich wollte auf der Therapiestation unter halbwegs Gesunden bleiben, so viel wusste ich noch, auch wenn man hier keine Lösung für mich hatte. Und irgendwie funktionierte es, ich weiß nicht mehr wie. Ich quälte mich in die Therapien, zwang mich die Mahlzeiten herunterzuwürgen und hangelte mich wie ein Gespenst durch den Tag. Mit zittrigen Händen deckte ich holprig die Tische beim Küchendienst, was eine echte Herausforderung in meinem Zustand darstellte. In den Gesprächstherapien oder der Bewegungsgruppe musste ich mich an den Wänden oder dem Stuhl festhalten, weil ich immer wieder schubweise das Gefühl hatte zu fallen; in der Ergo füllte ich über Wochen akribisch die leeren Felder eines Ausmalbildes mit Farbe ohne auch nur einmal aufzusehen. An den Nachmittagen hastete ich im Stechschritt durch die Parkanlagen um die quälende innere Spannung und die schlimmen, aufdringlichen Gedanken irgendwie abzuschütteln, was niemals gelang. Alle waren sehr freundlich zu mir, die Therapeutin sehr engagiert. Es nutzte nichts. Ich blieb ein zitterndes Wrack.
Frag mich nicht, wie ich das überlebt habe. Ich war in diesem seltsamen autonomen Überlebensmodus in dem man einfach weiterfunktioniert und existierte so von Stunde zu Stunde, Tag für Tag.
In den Therapiegesprächen versuchte ich, obgleich ich völlig ausser mir war, mich dennoch krampfhaft mit den kruden Gefühlen, den kruden Zuständen auseinanderzusetzen, ich schonte mich nicht. Denn man sagte mir: Schauen Sie hin, arbeiten Sie an sich, dann wird es besser. Ich hätte alles getan, um meinen Zustand zu lindern. Immer wieder schaute ich hin, schrieb ich auf, versuchte akribisch zu analysieren und zu begreifen.
Kannte ich aus früheren Therapiesitzungen das Gefühl, durch Klärung im Gespräch Erleichterung und Ordnung im Inneren zu erlangen, waren in diesem Zustand Hopfen und Malz verloren. Ich kam an keinen Kern, keinen subtilen Konflikt heran. Egal welchen Pfad ich zu gehen versuchte, es tangierte das alptraumhafte Geschehen in mir kein bisschen. Es wurde nur noch schlimmer. Mir wurde damals irgendwann schmerzhaft bewusst, dass die Belegschaft der Station, so wohlmeinend sie auch alle waren, leider auch keine Idee hatte, wie man mich wieder in Spur bringen konnte. Gespräche halfen nicht, das alte Medikament half nicht und die neuen machten alles nur noch schlimmer. Überwältigende Hilflosigkeit breitete sich aus.
Ich war eingeschlossen in einem entsetzlichen Alptraum.
So vergingen neun Wochen auf Station. Ich hörte die Züge, die auf den nahegelegenen Bahngleisen vorbeirauschten und spürte, dass ich eigentlich nichts mehr wollte, als dort hinzugehen um diesen Wahnsinn zu beenden. Ich war wie aufgelöst, mein Zeitgefühl war irritiert, mittags erschien es mir oft, als sei es bereits gen Abend. Die Vergangenheit, die letzten Monate und Jahre lagen in ungeordneten Trümmern hinter mir, so als hätten sie nie etwas mit mir zutun gehabt. Von mir war nichts mehr übrig, ich war verloren, gottverlassen. Minütlich heimgesucht von dramatischen Emotionen und intrusiven inneren Bildern kroch ich durch mein neues Leben, tat so, als sei ich ein Mensch und hätte mich zu gerne in die Nacht geflüchtet, doch auch des Nachts geschahen grauenvolle Dinge in mir. Meine Träume waren von einer Schwere und Szenendichte, die mir während ich darin schwebte den Atem raubte. Eingewoben in Grauen und Ausweglosigkeit träumte ich von ebendiesen. Ich war eingesperrt und jemand hatte den Schlüssel weggeworfen. Mitten in der Nacht erwachte ich unter einer Last die mich erdrückte in einen Tag der mir nichts anbot ausser weiteren, endlosen Terror, qualvolle Anspannung und Getriebenheit.
Ich konnte das alles nicht fassen und kann es auch immer noch nicht. Wie konnte es sein, dass ein harmloser Mensch in so einem grauenvollen, unbeeinflussbaren Zustand ersoff dem man nichts, rein gar nichts entgegen setzen konnte? Ein Zustand, der sich jedem Behandlungsversuch, jeder Herangehensweise entzog. Das durfte doch nicht sein, das war unmenschlich! Ich war aus unerfindlichen Gründen in der Hölle gelandet und konnte sie nicht mehr verlassen. Ich war gefangen im bad trip, einem surrealen Zustand. Dabei hatte ich doch gar keine Drogen konsumiert, kein LSD, keine Experimente mit bewusstseinserweiternden Substanzen. Es fühlte sich an als wären jegliche hemmende Instanzen in meinem Nervensystem ausser Kraft gesetzt, es existierte kein Rahmen mehr, keine Begrenzung. Gedanken und Gefühle explodieren in mir wie in einem Feuerkessel und ich stand mitten unter den Normalen und musste in stillschweigendem Entsetzen versuchen all das irgendwie zu tragen.
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